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Eine Aufgabe lösen heißt ...

einen Ausweg aus einer Schwierigkeit finden, einen Weg um ein Hindernis herum entdecken, ein Ziel erreichen, das nicht unmittelbar erreichbar war. Das Lösen von Aufgaben ist die spezifische Leistung der Intelligenz, und die Intelligenz ist die spezifisch menschliche Gabe: Das Lösen von Aufgaben kann unter allen Tätigkeiten des Menschen als diejenige angesehen werden, die für ihn am charakteristischsten ist. [...]

Das Lösen von Aufgaben ist eine praktische Kunst wie Schwimmen oder Skillaufen oder Klavierspielen: Sie lässt sich nur durch Übung und Nachahmung erlernen. [...]

Unser Wissen auf irgendeinem Gebiet besteht aus zwei Komponeneten: aus Kenntnis der Tatsachen und praktischem Können. Für den, der echte Erfahrung in mathematischer Arbeit hat, sei es auf elementarem oder fortgeschrittenem Niveau, kann kein Zweifel bestehen, dass in der Mathematik praktisches Können viel wichtiger ist als der bloße Besitz von Kenntnissen. Infolgedessen sollte auf der Mittelschule wie auf jedem anderen Unterrichtsniveau dem Schüler zugleich mit einem gewissen Quantum sachlicher Kenntnisse auch ein gewisses Maß von praktischem Können vermittelt werden.

Was ist in der Mathematik praktische Können? Die Fähigkeit, Aufgaben zu lösen, nicht bloß Routineaufgaben, sondern solche, die einen gewissen Grad von Unabhängigkeit, Urteilsfähigkeit, Einsicht, Originalität und schöpferischer Tätigkeit verlangen. Darum ist es die erste Pflicht des Mathematikunterrichtes, das Selbstdenken der Schüler zu fördern und zu diesem Zweck methodische Arbeit im Aufgabenlösen besonders zu betonen.

Aus: Polya, Gyorgy 1966